Die Lieferschwierigkeiten während der Corona-Krise haben gezeigt, dass eine gute Materialdisposition unumgänglich für ein Unternehmen ist. Sie stellt sicher, dass die richtigen Materialien zur richtigen Zeit und in der richtigen Menge verfügbar sind. Dadurch können Produktionsprozesse reibungslos ablaufen und Lieferengpässe vermieden werden. Ein wesentlicher Bestandteil der modernen Materialdisposition sind Prognosemodelle, die Unternehmen dabei unterstützen, zukünftige Entwicklungen, z.B. Materialbedarfe, präzise vorherzusagen. Doch der Wert von Prognosen hängt an einem wesentlichen Punkt: Wissen – um die Vergangenheit und die Wirkungszusammenhänge des Systems. Prognosemodelle lassen sich dabei grundsätzlich in zwei Kategorien einteilen: qualitative und quantitative Prognosen.

Qualitative und quantitative Prognosen

Qualitative Prognosen

Qualitative Prognosen basieren auf subjektiven Einschätzungen und Expertenmeinungen. Sie werden häufig in Situationen eingesetzt, in denen keine ausreichenden historischen Daten zur Verfügung stehen oder wenn zukünftige Entwicklungen stark von nicht quantifizierbaren Faktoren abhängen. Zu den gängigsten qualitativen Methoden gehören:

  1. Delphi-Methode: Experten geben anonym ihre Einschätzungen zu bestimmten Fragen ab. Die gesammelten Meinungen werden aggregiert und den Experten zur Überarbeitung zurückgespielt, bis ein Konsens erreicht wird. So könnten Experten ihre Meinung zur zukünftigen Verfügbarkeit und Preisentwicklungen von Rohstoffen abgeben.
  2. Marktforschung und Umfragen: Durch direkte Befragung von Experten, Lieferanten und anderen Stakeholdern können wertvolle Informationen zur zukünftigen Nachfrage gesammelt werden. Diese Methode ist besonders nützlich für die Einführung neuer Produkte oder für Märkte mit schnellen Veränderungen. So könnten vor Einführung eines neuen Produktes Lieferanten zu Lieferzeiten und Qualitätsstandards befragt werden.
  3. Szenario-Analyse: Szenario-Analysen entwickeln verschiedene mögliche Zukunftsszenarien basierend auf unterschiedlichen Annahmen und bewerten deren Auswirkungen auf den Materialbedarf. Diese Methode hilft, Unsicherheiten und Risiken besser zu verstehen und darauf vorbereitet zu sein. Im Einkauf könnten verschiedene Szenarien, wie etwa Änderungen der gesetzlichen Vorschriften oder geopolitische Ereignisse, analysiert und deren Auswirkungen auf die Verfügbarkeit und Kosten der benötigten Materialien bewertet werden.

Solche Methoden lassen sich in der Bedarfsmengenplanung jedoch schwer sinnvoll umsetzen, um einen Bedarf an Teilen einer Stückliste abzuschätzen. Sie eignen sich beispielsweise für neue Produkte oder Markttrends. Die meisten Unternehmen haben jedoch Zugang zu ihren eigenen, meist ungenutzten, historischen Verbrauchsdaten und müssen diese nur sinnvoll einsetzen.

Quantitative Prognosen

Quantitative Prognosen verwenden statistische und mathematische Modelle, um zukünftige Entwicklungen auf Basis historischer Daten vorherzusagen. Diese Methoden sind objektiver und liefern oft genauere und reproduzierbare Ergebnisse. Zu den wichtigsten quantitativen Methoden gehören:

  1. Zeitreihenanalyse: Zeitreihenmodelle analysieren historische Daten, um Muster und Trends zu identifizieren und zukünftige Werte vorherzusagen. Üblicherweise werden Verbrauchsdaten der letzten Monate und Jahre herangezogen, um die kommende Planungsperiode zu prognostizieren.
  2. Kausale Modelle: Kausale Modelle versuchen, zusätzliche Variablen zu erheben, Beziehungen zwischen sämtlichen Variablen zu identifizieren und zu quantifizieren, um die zukünftige Nachfrage zu prognostizieren. Klassischerweise steigt die Nachfrage nach Eis an heißen Sommertagen an.

Beide Modelle können durch fortgeschrittene Algorithmen mithilfe maschinellen Lernens unterstützt werden. Diese nutzen große Datenmengen, um komplexe Muster und Beziehungen zu erkennen.

Welchen Nutzen haben Prognosen und welche Herausforderungen bringen sie mit?

Es liegt in der menschlichen Natur die Zukunft kennen zu wollen. Wir schließen Wetten auf Sport, Versicherungen auf Hab und Gut ab oder sagen das Wetter voraus. Wieso also nicht auch zu Materialverbrauch? Liegen wir mit unserer Prognose richtig, bringt dies viele Vorteile mit sich, die sich primär in niedrigeren Kosten spiegeln:

  1. Verbesserte Entscheidungsfindung: Prognosemodelle liefern datenbasierte Entscheidungsgrundlagen, die Experten bei der strategischen und taktischen Planung unterstützen. Sie ermöglichen es, fundierte Entscheidungen hinsichtlich Materialbeschaffung, Produktionsplanung und Lagerhaltung zu treffen. Methoden wie Business Intelligence und Advanced Analytics bieten hierbei tiefgehende Einblicke in die Materialströme und Bedarfsentwicklungen.
  2. Genauigkeit und Effizienz: Durch verbesserte und unterstützte Entscheidungsfindung lässt sich die Bestellgenauigkeit verbessern und das Risiko von Überbeständen und somit höheren Lagerkosten sowie Materialengpässen reduzieren.
    Im Bereich der Materialbeschaffung reicht oft schon eine Prognose eines Jahresbestandes aus, um in den Lieferantenverhandlungen Abnahmemengen zu bestimmen und dadurch Mengenrabatte zu erzielen.
  3. Optimierte Lieferkette: Weiters wirkt sich die verbesserte Grundlage auf die gesamte Lieferkette positiv aus. Lieferanten können ihre Produktion und Logistikprozesse besser planen, was zu einer reibungsloseren Zusammenarbeit und einer höheren Reaktionsfähigkeit der Lieferkette führt. Dies reduziert Lieferzeiten und verbessert die Kundenservicequalität.

In Casinos werden neben Roulette-Tischen die Ergebnisse vergangener Spiele angezeit. So soll das Gefühl vermittelt werden, dass wenn mehrmals hintereinander eine rote Zahl kam, die Chance auf eine schwarze größer wird – die Krux dahinter ist jedoch: die Wahrscheinlichkeit ist immer dieselbe. Die Schwierigkeit bei Prognosen liegt im Kennen der zugrundeliegenden Daten und der relevanten Wirkungszusammenhänge:

  • Datenabhängigkeit: Die Genauigkeit von Prognosemodellen hängt stark von der Qualität und Verfügbarkeit historischer Daten ab. Fehlerhafte, unvollständige oder veraltete Daten können zu ungenauen Vorhersagen führen und die Zuverlässigkeit des Modells beeinträchtigen. Daher sind kontinuierliche Pflege und Aktualisierung der Daten unerlässlich.
  • Komplexität: Die Implementierung und Nutzung von Prognosemodellen erfordern ein gewisses Verständnis in den Bereichen Statistik, Naturwissenschaft, IT sowie dem jeweils betroffenen Fachgebiet (z.B. Produkte, Branchen, Märkte, Geographie).
  • Anpassungsfähigkeit: Prognosemodelle basieren auf historischen Daten und bestimmten Annahmen. Bei plötzlichen Marktveränderungen oder unvorhersehbaren Ereignissen, wie beispielsweise Pandemien oder Naturkatastrophen, können die Modelle ungenaue Vorhersagen liefern. Dies macht Absicherungsmaßnahmen (z.B. Sicherheitsbestände) oder eine schnelle Anpassung und Flexibilität in der Dispositionsstrategie erforderlich.
  • Kosten für Implementierung und Wartung: Die Einführung und kontinuierliche Pflege von Prognosemodellen können hohe Kosten verursachen. Dies umfasst sowohl die Investition in geeignete Softwarelösungen als auch die Kosten für Schulungen und externe Beratungsdienste.

Die Wundertüte, die keine ist

Prognosemodelle bieten zahlreiche Vorteile für die Materialdisposition, insbesondere in Bezug auf Genauigkeit, Effizienz und Kostenersparnis. Durch den Einsatz fortschrittlicher Algorithmen und Datenanalysen – der Einsatz künstlicher Intelligenz ist ein logischer Schritt auf dieser digitalen Reise – können Unternehmen fundierte Entscheidungen treffen, ihre Bestände besser verwalten und die Lieferkette optimieren. Allerdings müssen auch die Herausforderungen und potenziellen Nachteile berücksichtigt werden, insbesondere die Abhängigkeit von der Datenqualität, die Komplexität der Modelle und die damit verbundenen Kosten. Dementsprechend kann man das Ergebnis der Prognose sowohl positiv als auch negativ beeinflussen, je nachdem wieviel Aufwand man auf sich nimmt. Leider gilt wie meistens: von nichts kommt nichts. Letztlich ist auch die menschliche „Entscheidung aus dem Bauch heraus“ eine Prognose – systemunterstützte und regelbasierte Verfahren schließen allerdings potenziell ungünstige Emotionen aus und liefern bei richtiger Anwendung bessere und reproduzierbare Ergebnisse.

In den kommenden Teilen dieser Reihe werden wir spezifische Ansätze der Materialdisposition genauer betrachten. Der nächste Beitrag widmet sich der verbrauchsgesteuerten Prognose, die stark auf die tatsächlichen Verbrauchsdaten setzt, um zukünftige Bedarfe zu ermitteln. Bleiben Sie dran, um zu erfahren, wie Sie Ihre Materialdisposition weiter optimieren und anpassen können!